Boxenstopp in der Adventszeit

     


    Mit spitzer Feder …


    (Bild: zVg)

    Schon wieder ist ein Jahr vorbei. Zum Jahresende fragen sich viele, wo die Zeit geblieben ist. Auch ich stelle fest – je älter ich werde – desto schneller verfliegt die Zeit. Ich schaue aus dem Fenster und huch – schon wieder ist es Winter dort draussen. Unbewusst hetzen wir durch unseren Tag und reagieren auf das, was passiert: Schlechte News, zu viele Pflichten und Arbeit, Abgabetermine, Regen und im Stau stehen. Müssen wir warten, werden wir ungeduldig: Die Zeit zerrinnt ungenutzt. Der Begriff «Zeit» taucht in vielen Zusammenhängen unseres Alltags auf: Man kann sie als Geschenk betrachten, zählen und mitstoppen, verschlafen oder totschlagen, sie sogar lesen oder Bücher darüberschreiben. In der Physik zählt die Zeit zu den grundlegenden Grössen. Sie läuft stetig und unaufhaltsam in eine Richtung ab, von der Vergangenheit, die wir erforschen können, in die Zukunft, die offen ist, von der Geburt zum Tod.

    Immer in der Adventszeit fühle ich wie wertvoll meine Lebenszeit ist und wie rasch sie doch vergeht. Ich erinnere mich an meine Kinderzeit, als die Zeit sich endlos hinzog, bis alle 24 Türchen am Adventskalender geöffnet waren und es endlich Weihnachten war. Diese nostalgischen Gefühle sind oft von etwas Melancholie begleitet. Und ich frage mich «Warum scheint es, als ob die Zeit im Alter wie im Flug vergeht, während unsere Kindheit sich endlos erstreckte?» Die Antwort liegt allerdings nicht in der Zeit an sich, die stets konstant verstreicht, sondern vielmehr in unseren persönlichen Erfahrungen. Unser Zeitgefühl ist manchmal paradox: Die Zeit scheint umso langsamer zu vergehen, je mehr Ereignisse wir erleben. Neue und vielfältige Erfahrungen prägen unser Gedächtnis und verlängern subjektiv die Zeitdauer. Die Lebensspanne zwischen 30 und 60 Jahren rauscht schneller dahin. Es gab Jahre in meinem Leben, die so voller Erinnerungen sind, dass sie mir endlos lang vorkommen. Wenn man Leben nicht mit Ereignissen füllt, kann man es kaum mehr fühlen, es ist dann wie Zeit, die man nicht erlebt hat. Diese Phase macht gerade mein betagter Vater im Pflegeheim durch. Allerdings hat er mit seiner Demenz den Bezug zu Raum und Zeit verloren. Vielleicht ist das wie Fliegen ohne Schwerkraft – ein Sein im Hier und Jetzt ohne Zukunft – einfach zeitlos leben und geniessen, ohne Müssen und Druck?

    Die Zeit für sich nutzen, sein Leben so leben, dass es möglichst lebenswert erscheint, ist das Ziel von uns allen. Niemand, wirklich niemand, will am Sterbebett sagen müssen, ich hätte vielleicht noch das und das machen wollen. So wird das Leben zum Wettbewerb des richtigen Nutzens. Ja nichts verpassen, alles mitnehmen, alle Chancen nutzen, denn wir wissen nicht, wann es vorbei ist. Doch oftmals planen wir unser Zeitmanagement ohne das grosse Aber. Denn wir haben das Leben nicht in der Hand. Manchmal zwingt es uns zu Pausen, in denen wir die Zeit ausser Acht lassen müssen. Dann vergehen Wochen, Monate, manchmal auch Jahre, in denen wir – vermeintlich – auf Sparflamme leben. Nicht jedes Erlebnis mitmachen, weil das Existieren allein schon Kraft kostet. Weil sich in unserem Inneren so viel bewegt, dass die Energie für die äusseren Umstände noch warten muss. Bis wir wieder genug Kraft getankt haben, um uns wieder zu 100 Prozent ins Rennen schmeissen zu können. Dann heisst es sprichwörtlich, es ist an der Zeit, sich die Zeit zu nehmen. Würde man einen Rennfahrer fragen, ob die Zeit im Boxenstopp vergeudet ist, würde er wohl nein sagen. Er gehört dazu, denn nur die Pflege des Motors und das Betanken lassen ihn weiterfahren, das Ziel erreichen. Und so ist keine Phase des Lebens vergeudet, manchmal ist sie nur der wichtige Boxenstopp auf dem Weg zum ganz eigenen (Lebens-)Ziel.

    Und hier wären wir bei Meister Hora in Momo – eines meiner Lieblingsbücher. «Es gibt ein grosses und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit.» Dies erklärt der Hüter der Zeit im Buch «Momo» von Michael Ende. Und er hat absolut Recht. Nach Meister Hora sollen wir die Zeit mit dem Herzen wahrnehmen. Gerade die besinnliche Adventszeit lädt uns jedes Jahr von neuem ein, den tickenden Uhren zu entfliehen, indem wir uns mehr in den einzelnen Moment vertiefen, innehalten, reflektieren, meditieren und einfach mal nichts tun und Zeit verstreichen lassen.

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

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